Der ICE nach Hamburg ist überpünktlich: Vier Stunden Reise liegen vor mir, ich habe bewusst ein Ruheabteil gebucht, damit ich die Zeit zum Arbeiten nutzen kann. Doch mein Platz ist belegt: Etliches Reisegepäck blockiert Sitz und Eingang. Darf ich das auf die Seite stellen? “Ei, wenn se die Kraft ham, des hochzuwuchten”, erwidert eine Dame in breitem Dialekt.
Zwei Plätze gebucht, fünf blockiert
Der große Koffer ist so schwer, dass wir vereinbaren, ich dürfe ihn vor das Abteil in den Gang stellen. Nun kann ich zumindest eintreten. Doch die Dame und ihr männlicher Begleiter, beide Mitte Sechzig, machen keine Anstalten, meinen Sitz zu räumen. Irgendwie haben sie alles in Beschlag genommen: Zwei Plätze gebucht, fünf blockiert: My Train is my Castle!
Ich wähle den einzig freien Platz und fange an zu arbeiten. Der Herr legt die Zeitung auf die Seite, seine Partnerin „babbelt“ unentwegt. Nichts wichtiges, eher banales: “Kuck emol do…!” Sie liest die Schilder der Bahnhöfe vor, weist auf Bäume und Häuser. Alle paar Sekunden hat sie was Neues entdeckt und muss es gleich benennten.
Rücksicht scheint nicht angebracht
Langsam geht mir das kindliche Ausrufen von Bäumen und Häusern auf die Nerven. Ich prüfe die Abteiltür: Das Flüsterzeichen signalisiert – alles richtig, ich bin im Ruhebereich. Doch die beiden Mitreisenden interessiert das nicht die Bohne. Sie sehen zwar klar, dass ich in Ruhe arbeiten will, doch Rücksicht scheint ihnen nicht angebracht.
Nun prüfe ich meine Optionen: Auf eine Diskussion mit den beiden habe ich keine Lust, also pfeife ich auf meine Reservierung und mache mich auf die Suche nach einem neuen Platz. In der Handy-Zone finde ich ein ruhiges Abteil. Schnell die Sachen holen, die beiden gucken ganz erstaunt. Ich erkläre kurz dass ich arbeiten möchte und in ruhigeres Abteil umziehen werde. Der Kommentar meiner Nachbarin „Alla hopp!“ Vielen Dank: Zum Schluss gibt es statt einer Entschuldigung noch einen verbalen Fußtritt.
Zeit für einen neuen Bahn Knigge
Schade, dass die Initiative vom Deutschen Knigge Rat einen Bahn Knigge gemeinsam mit dem Unternehmen zu veröffentlichen ist, im Sande verlaufen ist. Bereits vor drei Jahren haben meine Kollegin Agnes Anna Jarosch und ich Gespräche mit dem Konzern geführt. Doch in der Praxis schien wenig Interesse an unserem Vorstoß. Ärgerlich für die zahlreichen Bahnkunden, die täglich ähnliche Erfahrungen machen: Nach meiner Ansicht ist die Zeit für einen neuen Bahn Knigge längst gekommen.
Welche Erfahrungen machen Sie auf Bahnreisen?
Schreiben Sie einen kurzen Kommentar…
Lieber Herr Wälde,
leider kann ich Ihre Erfahrung nur bestätigen. Es scheint ja mittlerweile Usus zu sein, dass man im Großraumwagen des ICE laut telefoniert. So erfahren die Mitreisenden teils pikante private Details aus dem Leben Ihnen unbekannter Menschen. Ebenfalls sehr beliebt: Geschäftsleute, die ungeniert mit Kunden oder Geschäftspartnern telefonieren und dabei Namen anderer Geschäftskontakte, nebst Firmennamen und detaillierter Projektbeschreibungen ins Telefon brüllen. In meinen Augen ein absolutes No-go.
Neulich auf dem Weg nach Kassel: Auch ich hatte bewusst einen Platz in der Ruhezone gebucht, weil ich arbeiten wollte. Als ich zu meinem Platz komme, stelle ich fest, dass der Herr in der Reihe vor mir ein wie oben skizziertes Telefonat führt. Ich tippe ihm auf die Schulter und frage, ob sein Gespräch noch lange dauere. Entnervt und völlig verständnislos blafft er mich an: “Das ist geschäftlich.” Ich: “Mag sein. Und das hier ist der Ruhebereich. Falls Sie vorhaben, noch länger zu telefonieren, würde ich umziehen. Ich möchte nämlich arbeiten.” Er: “Ich bin ja gleich fertig.” Er hörte dann tatsächlich bald auf zu telefonieren. Natürlich nicht, ohne vorher seinem Gesprächspartner noch ausführlich von diesen spießigen, intoleranten Bahnreisenden zu erzählen, die ja keine Ahnung vom anstrengenden Leben eines wichtigen Geschäftsmannes haben.- Ich hatte jedenfalls die Aufmerksamkeit des kompletten Abteils 🙂 Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten konnte ich dann auch arbeiten.
Fazit: Bahn-Knigge halte ich für eine gute Idee. Allerdings frage ich mich, ob da nicht eher grundsätzlich etwas nicht stimmt in Punkto Respekt gegenüber anderen Menschen, was dann im Mikrokosmos Bahn besonders auffällt.
Herzliche Grüße, Louise Fiegel
Liebe Frau Fiegel,
danke für Ihr eigenes Beispiel – nach meiner Erfahrung scheint dies häufig die einzige Möglichkeit zu sein, den einen öderen Mitreisenden an die Spielregeln der Ruhezone zu erinnern. Wenn ich an die klassische Telefonzelle denke, käme wohl kaum einer auf die Idee, sich dort als zweite Person mit seinem Handy hineinzustellen. In den Bahnabteilen ist dies jedoch Alltag.
Herzliche Grüße, Rainer Wälde
Sehr geehrter Herr Wälde,
wie Sie mir mit Ihrem Artikel “My Train is my Castle”doch aus dem Herzen gesprochen haben!
Ihre Begegnung mit dem “mittelalterlichen” Ehepaar im Zug ist kein Einzelfall. Auch ich komme während meiner Bahnreisen stets in Situationen, die mich als Trainerin für Businessknigge und Komminikation regelrecht verunsichern. Nämlich: “Äußere ich mich nun zu dem unhöflichen Verhalten?” oder mache ich es wie Sie und räume das Feld? Das erste wäre schulmeisterhaft, das zweite ist zwar menschlich klug, jedoch auf Dauer keine Lösung.
Ich begrüße Ihren Vorstoß, einen so genannten “Bahn-Knigge” herauszugeben, obwohl ich bezweifele, dass gerade der von Ihnen erwähnte Personenkreis die darin geäußerten Ratschläge lesen, geschweige denn annehmen würde.
Auf einer Bahnfahrt im Regionalzug ins Ruhrgebiet hatte ich mir “mein kleines Büro” in der 1. Klasse eingerichtet, weil ich mich auf meinen nächsten Termin vorbereiten wollte. Wunderbar, ich war der einzige Fahrgast und wollte so richtig los legen. Das tat ich auch, ja…, bis sich an der nächsten Haltestelle schwungvoll die Tür öffnete, ein junger Mann mit Baseball-Kappe (nichts gegen Baseballkappen..) hinein sprang, sofort an seinem Handy herum fingerte und in einer Lautstärke in das Telefon hinein sprach, dass an ein Weiterarbeiten nicht mehr zu denken war. Wir alle kennen diese Situation: Wir wollen gar nicht zuhören, doch können wir uns nicht dagagen wehren, alle Einzelheiten des Gesprächs verfolgen zu müssen. Ich sage betont “müssen”, denn was der Typ mit seinem Freund besprach, interessierte mich ganz und gar nicht. Dieses Zuhören wurde mir aufgezwungen.
Nach einer Weile faste ich mir dann doch den Mut und fragte, ob ihn das nicht stören würde, wenn ich alle Details seiner letzten Nacht mit bekäme. Sein Kommentar: “Nö, Sie kennen doch die Leute nicht….” (Seinen Dialekt kann ich leider nicht so wiedergeben, wie Sie in Ihrem Artikel.)
Derartige Geschichten passieren mir ständig – übrigens auch gern mit den knackigen Jungmanagern, die sofort nach Belegen des Sitzplatzes die Tabellen mit endlosen Werten ihrem Büro durchgeben, und dies meistens so laut, dass ich häufig schon an die Verletzung des Firmengeheimnisses gedacht habe. Nun, eines wurde dadurch jedenfalls erreicht: sie finden sich ungeheuer wichtig.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen stets ein ruhiges Plätzchen zum Arbeiten im Zug, rücksichtsvolle Mitreisende und auch weiterhin jenes Quentchen Humor, das aus Ihren Zeilen spricht.
Mit herzlichen kniggologischen Grüßen
Elke A. Kaiser
Liebe Frau Kaiser,
herzlichen Dank für Ihre nette Rückmeldung und Ihre persönliche Geschichten. Vertrauliche Daten sind leider im Großraumwagen ständig hören. Erst kürzlich hörte ich die Geschichte von zwei Medizinern, die Diagnosen mit Patientennamen austauschten…
Es bleibt viel zu tun für uns als Knigge-Trainer. Viel Vergnügen und gute Nerven wünsche ich Ihnen.
Herzliche Grüße
Rainer Wälde